Theodor-Fontane-Freundeskreis M/V – Kloster Dobbertin
Mitglied in der Theodor Fontane Gesellschaft e.V.
       


 


Theodor Fontane in der Anekdote und in der Erinnerung seiner Zeitgenossen

Nähert man sich dem Thema Anekdote mit dem inzwischen üblichen Definitionsversuch über Wikipedia, dann erfährt man von den römischen Wurzeln dieses Genres. Der Autor des Internet-Lexikonabschnitts geht davon aus, dass die Anekdote – erstmals im 6. Jahrhundert so genannt – wohl die früheste Form einer Klatschkolumne gewesen sei.

Unsere Referent Dr. Wolfgang Rasch beschränkte seine Betrachtungen auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, und er unterschied zwischen Anekdoten, die Fontane selbst zum Besten gegeben hat und solchen, in denen der Dichter als Protagonist auftritt. Vor allem aber differenzierte er zwischen „echten“ und „unechten“ Anekdoten: Geschichten dieses Genres werden ja oft mündlich überliefert, ehe sie jemand schriftlich festhält. Und so ist es aus wissenschaftlicher Sicht oft nicht mit Sicherheit möglich, zwischen Verbürgtem (oder vom Verfasser selbst Erlebtem), halbwegs Belegbarem und schlicht Erfundenem zu unterscheiden.
Wolfgang Rasch präsentierte für jede dieser Ausprägungen von Anekdoten treffende Beispiele. Verbürgt durch persönlichen Bericht des „Opfers“ ist etwa die Geschichte, in welcher der alte Fontane, sekundiert von Emilie, den jungen, kunstenthusiastischen Theodor Lessing davor bewahrt, sein Leben der Menschheitserziehung vermittelst Lyrik zu verschreiben (und dies offensichtlich erfolgreich, wie die weitere Vita des Philosophen und Publizisten erweist). Zunächst empfiehlt Fontane ihm, es doch lieber mit dem „höheren Postfach“ zu versuchen oder vielleicht bei der Eisenbahn. Der unglückliche Poet trägt schließlich eines seiner Gedichte vor. „Recht nett“, sagte Fontane. Seine Frau meinte: „Zahntechniker sei noch nicht so überfüllt und böte gute Aussichten.“
Wenigstens zum Teil belegt ist die Anekdote über Fontanes Aufenthalt im Gasthof zu Caputh im Kontext seiner „Wanderungen“ um den Schwielowsee, wohin uns Wolfgang Rasch als nächstes führte. „Im Prinzip ja“, ist man versucht zu sagen, was den Inhalt der Anekdote betrifft – nur, dass Fontane nicht für längere Zeit, sondern nur einen Tag und eine Nacht in Caputh war; dass er nicht etwa mehrere Wochen lang unter der gastlichen Boßdorf’schen Linde saß und intensiv an den „Wanderungen“ arbeitete, sondern sich allenfalls beim Frühstück einige Notizen machte – und die rätselhafte Schönheit, die mit ihrer Gesellschaft in Caputh weilte, hat den Märker keineswegs „entführt“, sie war lediglich auf einen Vormittagsimbiss im selben Gasthof eingekehrt. Da bleibt mit Wolfgang Rasch nur zu vermuten, dass der Urheber der Geschichte im Dunstkreis von Gastwirt Boßdorf zu suchen ist und nicht so sehr am tatsächlichen Fontane-Kurzbesuch interessiert war, sondern mit seiner ausgebauten Geschichte wohl eher von der beginnenden Prominenz des Märkers profitieren wollte.
Der Referent führte auch Beispiele für Fontane-Anekdoten an, die – leider, möchte man fast sagen – gänzlich ins Land der Phantasie gehören.
So der fiktive verbale Schlagabtausch zwischen Rudolf Virchow und Theodor Fontane um dieselbe Dame. Sinngemäß: „Wenn sie von deinen Romanen krank geworden ist, werde ich sie heilen!“ – „Und wenn sie dann an deiner ärztlichen Kunst gestorben ist, mache ich sie unsterblich!!“ –
Oder die Geschichte einer besonderen Duellforderung, der Fontane ganz berlinisch-cool begegnet sei. Er erscheint pünktlich zum Duell, verschmäht jedoch die Auswahl der vorgelegten Waffen und präsentiert statt dessen zur Überraschung des Duellgegners ein Döschen mit zwei schwarzen Pillen, von denen, wie er sagt, eine vergiftet sei. Er sei bereit, dem Kontrahenten die Wahl der Pille, die dieser zu sich nehmen wolle, zu überlassen… Der Gegner wehrt entsetzt ab – und schließlich habe man gemeinschaftlich die beiden (Lakritz-)Pillen verzehrt. Auch im Nachgang des „Duells“ sei ganz und gar kein Blut, sondern vielmehr ausreichend Rotspon geflossen…
Nun – schlagfertig wie in der ersten Anekdote ist Fontane gewiss gewesen, und auch Duelle samt überkommenem Ehrbegriff hat er mit Sicherheit abgelehnt. So gesehen, erfüllen diese „unechten“ Anekdoten am Ende doch zumindest eines der Kriterien dieses Genres: es werden in prägnanter Weise Persönlichkeitsmerkmale der handelnden Berühmtheiten erhellt – notfalls, indem man diesen die dazu passenden Begebenheiten phantasievoll „unterschiebt“. Wolfgang Rasch berichtete darüber hinaus auch von „Wander-Anekdoten“, fiktiven Begebenheiten mit wechselndem berühmtem „Personal“, deren Erfundensein allein dadurch offensichtlich ist. Dennoch – diese persönliche Bemerkung mag erlaubt sein – statt zwischen „echten“ und „unechten“ zu unterscheiden, neige ich als „Konsumentin“ eher zur Trennung zwischen guten und schlechten Anekdoten – und gut sind die „unechten“ Beispiele unseres Referenten allemal!
Wolfgang Rasch führte weiter aus, dass der besondere Reiz der pointierten Geschichten über prominente Persönlichkeiten rückblickend in manchen Zeiten gefragter scheint als in anderen. So wurden z. B. Ende der 1940er Jahre eine Fülle von „unechten“ Fontane-Anekdoten in der Tagespresse publiziert – sicher ein Ausdruck der Sehnsucht nach geordneten Verhältnissen, nach Biedermeier-Gemütlichkeit. Die Person Theodor Fontane war hier eher austauschbar; sie hatte wohl häufig nur das Kolorit der „guten alten Zeit“ zu liefern.
Und heute? Statt der Freude an guten (oder gut ausgedachten) Geschichten mit Wortwitz und Hintersinn wollen die Redakteure mancher Medien bei ihrem Publikum einen enormen Bedarf an Voyeurismus ausgemacht haben, den diese Medien nur allzu bereitwillig bedienen. Wie bedauerlich, dass die Anekdote offensichtlich wieder von ihrer römischen Vorläuferin, der Klatschkolumne, abgelöst worden ist…

Im Gegensatz zu einigen der Zeitgenossen Fontanes, so Wolfgang Rasch, sind insgesamt recht wenige „echte“ Anekdoten über den Märker bekannt. Keine über den jungen Fontane, nur spärliche Funde über den alten.
Doch Wolfgang Rasch vermutet, dass es in den unerschlossenen Nachlässen von Bekannten und Freunden Theodor Fontanes wohl noch manchen Schatz zu heben gilt. – Trösten wir uns also vorerst mit „Fontane aus erster Hand“¹…

Die Gelegenheit, nach dem anregenden Vortrag noch mit dem Referenten – und auch miteinander – bei einem Glas Wein ins Gespräch zu kommen, wurde von zahlreichen Zuhörern genutzt.

Die Mitglieder unseres Freundeskreises freuen sich mit unseren treuen und hoffentlich weiteren neuen Gästen auf ein ebenso anregendes Fontane-Jahr 2010 im Kloster Dobbertin!

Gabriele Liebenow

¹„Erschrecken Sie nicht, ich bin es selbst“. Erinnerungen an Theodor Fontane. Herausgegeben von Wolfgang Rasch und Christine Hehle. Aufbau Taschenbuchverlag Berlin 2003.

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26. September 2009, 17.00 Uhr
im Refektorium des Klosters Dobbertin

Wolfgang Rasch, Berlin:

Theodor Fontane in der Anekdote und in der Erinnerung seiner Zeitgenossen

Theodor Fontane liebte Anekdoten, und auch er selbst lebt in vielen Anekdoten und Erinnerungen fort. „Wer das Glück hatte, ihm zu begegnen, spürte seine moralische Integrität und war beeindruckt von der geistigen Unabhängigkeit dieser Persönlichkeit. Stets blieb ein charakteristisches Detail, eine komische oder rührende Szene, eine humoristische Wendung, eine einladende Geste im Gedächtnis. Seinem Charme vermochte sich keiner zu entziehen.“¹

Die Bibliographien von Dr. Wolfgang Rasch über die Schriften von Theodor Fontane, Karl Gutzkow und Peter Rühmkorf gelten als Standardwerke. Neben Briefeditionen ist er auch Mitherausgeber der Erinnerungen von Zeitgenossen Fontanes an den Dichter.

¹ Quelle: Homepage Aufbau Verlag